Meine Erinnerungen an den 17. Juni 1953 in Leipzig

Von Leonore Wilhelm – aufgeschrieben im März 2003

Der 17. Juni 1953 liegt jetzt 50 Jahre zurück und ich muss gestehen, dass meine Erinnerungen an die Geschehnisse dieses Tages lückenhaft, eigentlich nur einzelne Bilder als Erinnerungsstücke in meinem Gedächtnis vorhanden sind. Es wird daher, um ein gewisses Bild der damaligen Zeit entstehen zu lassen, das Beste sein, auf einige Erinnerungen aus der Zeit kurz vor dem 17. Juni zurückzugreifen.

Ich war im Frühjahrssemester 1953 Studentin an der Leipziger Universität, die kurz zuvor den Namen “Karl-Marx-Universität” verliehen bekommen hatte. Diese Namensgebung war mit einer starken Politisierung der Universität verbunden – es wurde immer wieder betont, dass sich die Karl-Marx-Universität zu einer sozialistischen Universität zu entwickeln habe. Dies hieß in der damaligen Zeit, dass sich das gesamte Geschehen an der Uni an den Leitlinien der SED zu orientieren hatte. Wenn man als Student schon nicht Genosse der SED war, so war es eine Selbstverständlichkeit, Mitglied der FDJ zu sein; und diese “Freie Deutsche Jugend”, die in den ersten Nachkriegsjahren wirklich Jugendliche verschiedener Weltanschauungen und unterschiedlicher politischer Ansichten in ihre Reihen aufgenommen hatte, wurde immer mehr von der Partei (d.h. von der SED) dominiert.

Doch mit der FDJ-Mitgliedschaft nicht genug – vor dem 17. Juni 1953 mussten auch noch alle Studenten (zumindest von den Slawistik-Studenten kann ich das sagen) Mitglied der GST werden. Die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) befasste sich in dieser Zeit mit der vormilitärischen Ausbildung, und so hatten auch wir Studenten und Studentinnen einmal in der Woche Unterricht am Gewehr; nach dieser “Grundausbildung” konnten wir uns dann eine Spezialrichtung wählen – ich begann z.B. eine Funkausbildung.

Es gab an der Universität natürlich auch Studenten, die mit dieser ganzen Linie nicht einverstanden waren und das auch öffentlich bzw. in ihren Seminargruppen äußerten. Besonders kritisch verhielten sich vielfach Mitglieder der Jungen Gemeinde (evangelische Jugendorganisation). Gegen diese Studenten wurde seitens der SED- und FDJ-Funktionäre eine regelrechte Kampagne in die Wege geleitet, die vielfach in großen FDJ-Vollversammlungen mündete, in denen den betreffenden Studenten sozusagen der Prozess gemacht wurde. Ich erinnere mich an eine solche Versammlung unserer FDJ-Fakultätsorganisation im Auditorium Maximum, während der einzelne Studenten nach vorn gerufen und höchst peinlich befragt wurden. Das Ziel war, ihnen antisozialistische Tätigkeit nachzuweisen. Anschließend wurde im Auditorium über die Exmatrikulation dieser Studenten abgestimmt – das war natürlich so gut vorbereitet, dass auch wirklich der Ausschluss zustande kam. Ich muss gestehen, zu mehr als zur Stimmenthaltung habe ich es damals auch nicht gebracht; aber die wenigen Enthaltungen oder Gegenstimmen spielten dabei ohnehin keine Rolle.

Dies war die Atmosphäre an der Karl-Marx-Universität, als Anfang März 1953 Stalin starb. Wir Studenten wurden aufgefordert bzw. verpflichtet, am Trauermarsch durch Leipzig teilzunehmen. Die Trauerfeierlichkeiten fanden an einem Montag statt. Ich war übers Wochenende bei meinen Eltern gewesen und fuhr am Montagmorgen mit der Eisenbahn nach Leipzig zurück. Kurz vor Leipzig blieb der Zug für fünf Minuten stehen (wie alle öffentlichen Verkehrsmittel in der DDR zu diesem Zeitpunkt), und die Fahrgäste wurden über Zugfunk zur Einhaltung von schweigsamen Trauerminuten aufgefordert. Man saß sich nun in einem engen Abteil schweigend gegenüber – was jeder einzelne dabei dachte, war den Gesichtern nicht anzusehen. In Leipzig angekommen, begab ich mich gleich zum Stellplatz für den Trauerzug. Wir wurden zum Schweigemarsch aufgefordert, und so bewegte sich ein unendlich langer Zug schweigender Menschen durch die Leipziger Innenstadt, bis hin zu dem großen Stalin-Denkmal, das damals dort stand, wo sich heute die Leipziger Oper befindet. Die Studenten sind in dieser Trauerkolonne bestimmt mit sehr unterschiedlichen Gedanken mitgezogen. Ich z.B. hatte kurz vorher in einer Kunstausstellung einen Fries gesehen, der darstellte, wie – in Umkehrung normaler Verhältnisse – die Hasen den Jäger erschossen hatten. Die Bildunterschrift lautete: “Ihm ist wohl, uns ist besser.” Dieser Spruch ging mir während des Trauerzuges immer durch den Kopf! Andere Studenten wiederum – das habe ich Jahre später z.B. von einem guten Bekannten erfahren – empfanden echte Trauer über den Tod des “weisen Führers” der Menschheit und vergossen sogar Tränen.

Nun, unmittelbar nach Stalins Tod wurde in der DDR und somit auch an der Leipziger Uni noch nicht viel besser; die Entwicklung ging zunächst in den oben geschilderten Bahnen weiter. Was sich in den Betrieben und in der übrigen Bevölkerung abspielte, bekamen wir Studenten höchstens am Rande mit – wir kümmerten uns in erster Linie um unser Studium.

Dann kam der 17. Juni. Wir hörten von Tumulten auf den Straßen und gingen natürlich nicht zu den nächsten Vorlesungen, sondern in die Stadt, um zu sehen, was los war. Wir sahen Menschenmengen mehr oder weniger geordnet durch die Straßen ziehen und irgendwelche Parolen rufen, die ich aber nicht verstand. Doch was verständlich war, das waren Sprüche, die an Häuserwände oder Straßenbahnen geschrieben waren und sich eindeutig gegen die Regierung richteten. Einer der Sprüche ist mir in Erinnerung geblieben: “Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!” (“Spitzbart” stand für Walther Ulbricht, “Bauch” für Wilhelm Pieck und “Brille” für Otto Grotewohl.)

Wir gingen bis zur FDJ-Kreisleitung, ebenfalls in der Innenstadt. Dort hatten Protestierer – vermutlich Studenten – das Gebäude gestürmt und warfen nun alle Akten zum Fenster hinaus, was von den Umstehenden mit großem Hallo quittiert wurde. Plötzlich ertönten dumpfe Schläge – wir eilten zum Hauptbahnhof, von wo sie offensichtlich kamen, und sahen, dass dort sowjetische Panzer aufgefahren waren, die nun schossen, um die Demonstranten auseinander zu treiben. Ich kann nicht sagen, ob scharf oder mit Platzpatronen geschossen wurde; denn wir Studentinnen machten uns auf den Heimweg; zu Fuß, da keine Straßenbahnen mehr fuhren. Das weitere Geschehen verfolgte ich bei meinen Wirtsleuten am Radio; an Fernsehen war ja noch nicht zu denken.

In den nächsten Tagen lief der Studienbetrieb für den Rest des Semesters wieder an, und ich kann mich nicht erinnern, dass es sofort irgendwelche Folgen des 17. Juni an der Uni gegeben hätte. Allerdings bestand für einige Wochen in Leipzig eine nächtliche Ausgangssperre, sodass wir uns immer bemühen mussten, rechtzeitig in unserer Studentenbude zu sein.

Auf längere Sicht hatten die Ereignisse des 17. Juni doch auch an der Karl-Marx-Universität der damaligen Zeit einige Folgen: So bekannten sich z.B. nur noch sehr wenige Studenten zur Mitgliedschaft in der GST, nachdem alle Akten in der FDJ-Kreisleitung aus dem Fenster geflogen waren, und wir gingen auch nicht mehr zur vormilitärischen Ausbildung. Die großen Versammlungen, in denen Studenten wie bei einem Hexenprozess verhört wurden, um dann exmatrikuliert zu werden, fanden später auch nicht mehr statt.

Allmählich normalisierte sich das studentische Leben – wenn auch die strengen Studienformen von damals (Studium in Seminargruppen mit verbindlichem Stundenplan, der wenig Zeit für fakultative Vorlesungen ließ) und die weiterhin recht starre ideologische Ausrichtung (wenn auch nun im Allgemeinen ohne Repressalien) weit entfernt von heutigen Studienbedingungen waren.

Leonore Wilhelm (geb. 1931) war nach Abitur und Neulehrer-Kurs zunächst als Lehrerin an einer Dorfschule in Sachsen tätig und arbeitete nach dem Slawistik-Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig als Fachschuldozentin für Russisch in Magdeburg. Von 1971 bis 1991 war sie Lehrerin im Hochschuldienst am Institut für Fremdsprachen der TU Otto von Guericke Magdeburg.