Mein 17. Juni 1953 in Magdeburg

Von Richard Wilhelm – geschrieben im März 2003

Den 17. Juni 1953 erlebte ich als Student der Magdeburger Fachschule für angewandte Kunst, Klasse für Glasgestaltung. Doch: erst einmal nicht im Schulgebäude in der Brandenburger Straße. Gleich nach dem Frühstück in meiner Studentenbude in der Beims-Siedlung, Walbecker Straße 16, wo ich bei ‘Mutter Reipsch’ möbliert wohnte, steckte ich Zeichen-Utensilien in meinen alten Glaser-Rucksack, einen Klapphocker dazu und lief durch die ruhige Siedlung, Ziel Stadtzentrum. Die Straßenbahn kam und hielt, fuhr aber nur bis zum Westring. Dort bog sie ab ins Depot.

Weiter mit raschem Schritt unterwegs, ging mir wieder und wieder durch den Kopf, was ich vom Westberliner Sender RIAS mittels der ‘Goebbels-Harfe’ – das war die kleinste Version des Volksempfänger-Radios zu Zeiten des Hitler-Reiches – in meinem Zimmer am Abend zuvor und am Morgen nochmals gehört hatte: Unruhen und Streiks in und um Berlin, Demonstrationen und Forderungen der Arbeiter gegenüber SED und DDR-Regierung.

Nach einer halben Wegstunde endlich am Hauptbahnhof, standen dort große Menschenansammlungen. Darunter offenbar viele Arbeiter und Angestellte, ziemlich ratlos, ob sie zu ihrem Betrieb gehen oder in ihren Heimatort zurückfahren sollten.

Straßenbahnen sah ich keine mehr fahren. Die Züge der Reichsbahn fuhren offenbar noch nach Ordnung. Auf das rostrote Schild über dem Eingang vom Bahnhofsplatz zur MITROPA -Gaststätte hatte jemand frisch mit weißer Farbe übergeschrieben: Mehr Lohn! Mehr Freiheit! Weniger Bonzen!

Von Volkspolizei und. Bahnpolizei war nichts zu sehen. Nichts mehr. Ein Studienkollege aus der Architektur-Klasse erklärte: “Haben wir schon außer Gefecht gesetzt!” Mein Wegziel war das damalige “Kulturhaus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft” in der HegeIstraße: Einst prachtvoll erbaut im Stil eines italienischen Palazzo mit den Historismen der Zeit vor 1900 als Sitz des Generalkommandos des IV. Preußischen Armeekorps, mit Wohnräumen für Aufenthalte der Kaiserlichen Familie und ihrer Gäste bis 1918. Nach der Wende von 1989 – und vielleicht bald wieder – Sitz der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt. Was trieb m ich an diesem Tage gerade dorthin?

Von der Dozentin im Fach Naturstudium, Margarete Weiß, hatte ich den Auftrag, dort das Geländer der Haupttreppe in Perspektive zu zeichnen, eine Kunstschmiedearbeit voll stilisierter Blüten und Ranken. Ziemlich schwierige Sache … Nun baute ich oben auf der Galerie des Hauses, vorn rechts nach dem Treppenauslauf, meinen Klapphocker hin, öffnete meine hohe Flasche schwarzer China-Tusche, legte das kleine Lindenholzbrett mit schon aufgespanntem Papier über meine Knie und begann eine Federzeichnung. Akribie war gefordert. Doch mit der Konzentration haperte es. Als ich mich nach Betreten des Hauses – der Ordnung wegen – anmelden wollte, waren die meisten Zimmer unbesetzt. Nur eine Kinder-Ballettgruppe hüpfte unbeschwert nach Klängen eines schwungvoll gespielten Klaviers.

Die meisten Mitarbeiter des Kulturhauses saßen in einem Eckzimmer im Erdgeschoss wie bei verlängerter Frühstückspause. Sie hatten mir ziemlich uninteressiert zugenickt, als ich durch die geöffnete Tür sagte, was ich vorhabe.

Die besondere Ruhe im Haus, kein Türenklappen, keine Besucher treppauf, treppab, nur hin und wieder und immer die gleichen Klavierakkorde zu leichtfüßigem Kindergetrappel – das machte mich eher unruhig als ruhig. Die Zeichnung gedieh mittelschnell und mittelgut. Die Redis-Feder hakte oft im Papier. Vielleicht lag das weder an der Feder, noch am Papier. Aber Tusche-Kleckse fabrizierte ich nicht; mit denen wäre bei Margarete Weiß eine Vier für das Blatt sicher gewesen, auch wenn sonst fast alles stimmte.

Als ich meine verkrampften Hände und Schultern etwas ausschütteln und zugleich draußen vor der Tür frische Luft schnappen wollte, näherte sich auf der Straße ungewöhnlicher Lärm. Und ich sah: Aus Richtung Hasselbachplatz, durch die Seitenstraßen, näherten sich viele kleinere Menschengruppen. Dahinter, aus Richtung Steubenallee und Schleinufer, ein gewaltiger, fast Kolonne zu nennender Zug. Etliche der Männer vornan hatten Lederschürzen, viele Hüte und Mützen trotz der Sonne. Manche trugen Hämmer, einige Brechstangen. Fast genau wie die Arbeiterfiguren auf den heroischen Plakaten, die vor dem 1. Mai, vor dem Republikgeburtstag oder vor SED-Parteitagen allenthalben prangten und zur Planerfüllung und -übererfüllung aufriefen.

Blitzschnelle Gedanken: Was tun? Jedenfalls die Zeichnung zu Ende bringen. Fräulein Weiß würde kaum eine Entschuldigung gelten lassen, eher Faulheit wittern, wenn ich nichts ablieferte. Also schnellstens zurück zu meinen Sachen! Durch die gläserne Lichtdecke des Hauses flutete volles Sommerlicht, hell auf der Galerie und bis ins Atrium der mächtigen Villa. An der Ecke zur Treppe, eine Armlänge neben mir, stand auf der Galerie eine Stalinbüste von etwa doppelter Lebensgröße. Der ‘Grosse Stalin’, der Anfang März schon auf seiner Datscha bei Moskau gestorben war. Er blickte mit stählernem Lächeln noch immer frontal auf jeden herab, der unten durch die großen Flügeltüren innen am Haupteingang das Haus betrat.

Von der großen, starken Außentür waren lautes Stimmengewirr und harte Stöße zu hören; jemand musste die Tür im letzten Moment noch verriegelt haben.

Ich zeichnete weiter – in der Anspannung und Gefahr immer ruhiger werdend; eine Eigenart, die ich schon als 13-Jähriger, in den letzten Kriegstagen in erbitterte Gemetzel an der Ostfront geraten, an mir bemerkt hatte. Erneut dröhnten harte Schläge aus Richtung Außentür Hegelstraße, gefolgt von knallend-brechendem Geräusch. Dann flog die breite Innentür auf. Und von der Strasse strömten Männer herein, fünf, sechs oder sieben Dutzend waren es wohl; und nur zwei Frauen, die besonders auffielen. Erst ziemlich vorsichtig, dann schneller und selbstbewusster durchstöberten sie die Büroräume im Erdgeschoss. Zimmertüren, die von innen verbarrikadiert waren und sich auf Zuruf nicht schnell wieder öffneten, wurden gewaltsam aufgebrochen. Den Angestellten im Hause wurde, soweit ich es sehen konnte, außer einigen Beschimpfungen und Bedrohungen nichts angetan. Einige der ins Haus gedrungenen Männer verschwanden in Richtung Keller (Gaststätte). Andere verließen das Haus schon so schnell, wie sie gekommen waren.

Aber nun zeigten immer mehr Hände nach oben. Fünf oder sechs Männer kamen auf der mit rotem Teppich belegten Marmortreppe aufwärts gestürmt und droschen – mit ihren Werkzeugen beim weiten Ausholen immer wieder sausend dicht neben meinem Kopf – auf die Stalinbüste ein. Und ich zeichnete weiter. Vielleicht noch ruhiger geworden. Zeichnend und denkend: Wirklichkeit? Ein neuer Film von Eisenstein?

Doch: Wirklichkeit. Jetzt!
Männerarme stemmten sich gegen den Stalin-Rücken. Der Große Stalin wankte.
Er stürzte hinunter, zerschlug in Teile, noch viele der Fußbodenfliesen mit zertrümmernd. Lautes Beifallklatschen und Triumph erfüllten den Raum. Einer der Denkmalstürmer drehte mich an der Schulter gewaltsam vom Hocker; schnaufend atmend, hatte jemand vorher von hinten auf meine Zeichnung gesehen: “Hau ab, Junge, verpiss dich! Oder wir schmeißen dich auch gleich noch runter – was?”

Der Mann war nicht betrunken. Nüchtern war er wohl auch nicht. Er nahm die Flasche mit meiner Zeichentusche. Hielt sie, während er das Etikett studierte, so schräg, dass es schwarz über sein Handgelenk lief, merkte es und klatschte die Flasche vor uns auf den Fußboden. Der schwarze Fleck war, zumindest an den Fugen der Fliesen, noch nach Jahren zu sehen.

Nun packte ich meine Sachen doch eiligst, warf meinen Rucksack über und brachte ihn – einen Teil des Wegs von einer Rad fahrenden Straßenbahnerin mitgenommen -in mein möbliertes Zimmer. Bei Margarinebroten und Rhabarberkompott hörte ich nochmals den RIAS: Die wussten schon, dass auch in Magdeburg einiges los war, was wohl vierundzwanzig Stunden zuvor noch niemand für denkbar hielt. Dann holte ich mein Fahrrad aus dem Keller und fuhr über das Sudenburger Bahnhofsgelände in Richtung Innenstadt.

Die Erstürmung des „Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ war kurz nach 10.30 Uhr gewesen. Jetzt zeigte die Sudenburger Bahnhofsuhr fast genau 13 Uhr. Am Ende der Sudenburger Wuhne zur Halberstädter Straße war kaum noch ein Durchkommen. Augenblicke lang herrschte fast Grabesstille; dann wieder lautes Rufen, Klatschen und Johlen der Menge. Ich war schon lange vom Rad gestiegen. Stand und sah: Von den Wachtürmchen an den Ecken der Gefängnismauern am Justizpalast kamen die uniformierten Posten, zu deren Füßen die aufgebrachte Menschenmasse wogte, Angst schlotternd heruntergeklettert.

Einige Uniformierte reichten zuvor ihre Waffen herunter, wie es Zurufe aus der Menge verlangten. Andere hatten ihre Karabiner über den Rücken gehängt, hielten ihre Hände demonstrativ weit weg von den Waffen. Uniformmützen trudelten durch die Luft, über den Köpfen der Menge fröhlich weitergeworfen. Jacken wurden zertrampelt.
Aus den Zellenfenstern des Gefängnisses hörte man immer mehr Rufe: „Rettet uns! – Holt uns raus! – Rettet uns! – Holt uns raus!”
Zwei Eisenbahner – offenbar dienstfrei jetzt – holten aus einem Bauwagen vom nächsten Abstellgleis ein paar Werkzeuge, die sich als viel zu leicht erwiesen, um damit das große Holztor zum Knast zu knacken. Ballen von Pappe und geknüllte Zeitungen machten wenig Flammen, nur viel Qualm, und griffen das Holz kaum an.

Plötzlich kam wieder starke Bewegung in die Menschenmenge. Die Richtung ihres Drängens änderte sich fortwährend unter dem Eindruck des Gerassels von Panzern, die sich näherten, ohne dass man sie sah.

Als ich die Halberstädter Straße überquerte, hatte ich mein Fahrrad, dass ich in der Menge vor den Gefängnis mitunter über Kopf trug, um besser durchzukommen, gerade wieder einmal bestiegen, als ich Schüsse aus Handfeuerwaffen ganz in der Nähe hörte: offenbar vom Dach des Gefängnisses, aber dann wohl noch mehr aus hoch gelegenen Fenstern des Polizeipräsidiums.

Panzerkanonen bautzten einige Male: dann in schnellerer Folge. Und als man die ersten Russenpanzer sah, fanden sich in der Menge genug erfahrene Frontsoldaten, die sich einig waren: Die Russenpanzer schießen nicht scharf! Und als andere Russen auftauchten, bewaffnete Uniformierte von Lastautos sprangen und russische Männer in Zivil die Demonstranten auseinander trieben, und einen Teil vor sich her an die Wand des Justizpalastes und in eine sich plötzlich von innen öffnende Tür drängten, sah ich noch Männer, die vielleicht in Kriegsgefangenschaft etwas Russisch gelernt hatten und nun mit den Russen zu reden versuchten. Mit den Uniformierten, die etwas unsicher wirkten, schien das mitunter zu gehen. Von denen in Zivil sah und hörte man nur, wie sie mit vorgehaltenen Pistolen und barschen Befehlen die von der Menge abgesonderten Demonstranten vor sich her trieben.

Meine Deckung, als verstärkt Kugeln pfiffen, lag ziemlich nahe gegenüber dem Eckeingang des Polizeipräsidiums und ich merkte, dass es schon allzu viele waren, die an der Rückseite des Eicke-von-Repgow-Denkmals, Ecke Carl-Miller-Straße, Schutz vor dem Beschuss suchten.

Das Bild änderte sich nun in drei, vier Minuten. Die Menschenmenge, die erst eine große Macht schien, lief unter dem Eindruck der Panzer, der Schüsse, die auch mehrere Tote und Verletzte zur Folge hatten, und vor allem in panischer Angst, von den Russen gepackt und abtransportiert zu werden, immer schneller auseinander.

Mit dem Rad zu fliehen, schien mir ganz unmöglich. Ich warf es über eine Hecke hinter dem Repgow-Denkmal – wo ich es seltsamerweise am übernächsten Tag noch, nur ohne Luftpumpe, wieder fand. Dann flüchtete ich in atemlosem Lauf über die Strasse in die .Grünanlagen längs der Bahnlinie zum Hauptbahnhof; und weiter zu meinem Schulgebäude in der Brandenburger Straße.

Dort liefen mir nur vereinzelt Studierende über den Weg; von den Fachdozenten nur ein Grafiker und ein Fotograf. Aber im Direktorzimmer saßen die Gesellschafts-wissenschaftler zusammen. In ihrer Nacktheit – zuvor hatte ich noch keinen von ihnen jemals ohne Parteiabzeichen gesehen – wirkten die Marxisten-Leninisten fast wie von einem anderen Stern. Sie luden mich ein, mit ihnen einen Tee zu trinken und interessierten sich, was ich ihnen aus der Stadt berichten könnte. Einer von ihnen, Dr. Berthold Beiler – er erhielt später eine Professur an der Kunsthochschule Leipzig und leistete Bedeutendes im Fachgebiet Ästhetik der Fotografie – erkundigte sich bei mir, ob ich noch Mitglied der LDPD sei und bemerkte „ganz nebenbei”, dass die ja in ganz respektablen Traditionen stehe und eine zwar bürgerliche, aber akzeptable Partei wäre. Ihm zumindest sympathisch.

Dr. Beiler war meines Erachtens der mit Abstand intelligenteste Gewi-Dozent an der Magdeburger Kunstfachschule und bei den Studenten geachteter als seine Kollegen. Trotzdem lehnte ich dankend ab, als er – einige Wochen später – mir nahe legte, über Vorteile und Nachteile im weiteren Leben nachzudenken. Zum Beispiel die Vorteile zu bedenken, die ein Wechsel meiner Parteimitgliedschaft von der “Liberalen Partei ohne erkennbare Zukunft” zur “einzigen Partei mit wissenschaftlich gesicherter Zukunft”, der SED, bestimmt in reichem Maße bringen würde. Hintergrund dieses Gesprächs mit mir: Nach der Niederschlagung der Volkserhebung vom 17. Juni 1953 ‘reinigte’ sich die SED und suchte viele neue Mitglieder.

Nach der ‘Teestunde mit den Genossen’ – die abwechselnd den Berliner DDR-Rundfunk und den Sender RIAS einschalteten – ging ich wieder auf die Straße.

Die Feuerwehrleute, in der Wache neben der Kunstfachschule, arbeiteten normal an der Wartung ihrer Geräte. Vor dem Bahnhof war eher weniger Betrieb als normalerweise. Die Straßenbahnen fuhren noch immer nicht. Und sobald sich, wie ich dann am Damaschkeplatz erlebte, eine größere Menschenansammlung bildete, tauchten bald Panzer auf, fuhren auf die Gruppe zu, stoppten erst im letzten Moment, ließen ihre Geschütztürme Furcht einflößend kreisen und die qualmenden Motoren dröhnen. Sie ruckten vorwärts und zurück und seitwärts und zerrissen das Pflaster der Bürgersteige zuhauf.

Ohne noch Schüsse abzugeben, waren die T-34-Panzer wirksame ‘Straßenfeger’. Und so waren auf den Strassen bald nur noch Leute, denen jeder ansah, dass sie schnellstens nach Hause wollten – wie ich! In meiner Bude legte ich mich aufs Bett, wollte nochmals Radio hören, schlief aber ein.

Am nächsten Morgen, zeitig aufgewacht, hatte ich nur noch einen Gedanken: Auf nach Leipzig! Zu Leonore, meiner Verlobten, die dort an der Uni studierte. Hatte sie alles gut überstanden? In Leipzig gab es am Vormittag des 18. Juni 1953 ein sehr, sehr glückliches Wiedersehen. Eines der schönsten Fotos in unserem Familienalbum, von einem Freund als Schnappschuss aufgenommen, zeigt es.

Nachbemerkungen:

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, landesweit, hatte Helden und Opfer – auch in Magdeburg. Ich war weder Held noch Opfer. Ich erlebte den Aufstand einfach als einer von vielen Zeugen.

Sofort nach dem 17. Juni gab es viele Verhaftungen und Verhöre, auch abschreckend grausame Verurteilungen mancherorts. Doch es gab auch Erfolge! Erfolge in Gestalt von Veränderungen, die – so heftig das von der SED -Propaganda auch bestritten wurde, offenbar auf kluge Befehle aus Moskau an ihre Ostberliner Genossen zurückgingen wie durch den Volksaufstand erkämpft wurden.

Ganz persönliche Rückblende:

Meine Mutter, seit Beginn des 2. Weltkriegs Witwe eines selbständigen Handwerkers, kinderreich, gehörte zu den Hunderttausenden von „bourgeoisen Kräften“, denen man die Berechtigung, monatlich eine Lebensmittelkarte zu erhalten, entzogen hatte. Das bedeutete, dass sie für alle bewirtschafteten Lebensmittel doppelt bis fünffach höhere Preise bezahlen musste, als wenn sie für Butter, beim Fleischer usw. die Lebensmittel ohne Diskriminierung hätte auf Marken kaufen können. Das war gezielter „Klassenkampf’, sollte die Reste des bürgerlichen Mittelstands demoralisieren und weiter verarmen lassen. Selbst die Briketts zum Heizen musste sie teuer zu „freien Preisen“ kaufen! Ich bekam immer eine Lebensmittelkarte: als Lehrling, als Facharbeiter und dann als Student. Mutter bekam sie wieder nach dem 17. Juni.

Aber über das Stipendium wurde mir die Lektion erteilt. Meine Erkundigung nach Studienbewerbung und Aufnahmeprüfungen hatte die Auskunft ergeben: „Du bist Facharbeiter, Bauarbeiter. Klar, dass du die neunzig Mark Grundstipendium monatlich kriegst, und ab einem Durchschnitt ‘gut’ darauf später noch Zuschläge.“

Als ich dann aber im September 1952 in der Schlange stand, an deren Kopfende der FDJ-Sekretär Roland Träger und seine Helfer die Monatsstipendien bar auszahlten, war mein Name mit ‘W’ dick durchgestrichen. Der FDJ-Sekretär ließ sich in keine Diskussion mit mir ein. Er versprach aber, das mir Unerklärliche ‘weiter oben’ zu klären.
Schon am nächsten Tag kam Roland Träger zu mir und erklärte “Pech gehabt!“
Und weiter: “Wenn du richtig gut bist, kriegst du eines Tages wahrscheinlich ein Leistungsstipendium. Aber Grundstipendium ist nicht drin bei dir: Soziale Herkunft entscheidet. Und dein Vater ist schließlich selbständiger Handwerker …!”

” War!” – korrigierte ich ihn. ” War selbständiger Handwerker, ist aber seit Kriegsanfang tot – mehr als 13 Jahre!”
Der FDJ-Sekretär nickte wie bestätigend, wischte aber gleichzeitig mit der Hand durch die Luft. “Das ist unwichtig”, wurde ich belehrt, “soziale Herkunft entscheidet! Und dein alter Herr war eben Ausbeuter – wenn auch ein kleiner. Tut mir Leid für dich …!” Die Belehrung traf. Nun wusste ich, wer ich war. Aber aufgeben?

Der Überlegung, Magdeburg hinter mir zu lassen und nach Westberlin ‘abzuhauen’, wie mir ein Freund nahe legte – “dort bekommst du Studienplatz und Stipendium als politischer Flüchtling” widerstand ich.

Ich suchte bezahlte Arbeit, die ich neben dem Studium ableisten konnte – und fand eine! In Stadtfeld, in der Arndtstrasse, war es dem Glasermeister Mühlnickel sehr recht, einen jungen Fachmann zu haben, der abends oder auch mal zum Wochenende bei seiner Kundschaft die Fenster reparieren ging. Und so zog ich dann mehrmals wöchentlich, mit einem Gestell voll Fensterscheiben auf dem Rücken, Kittkübel und Werkzeugtasche in Händen, schwer tragend durch das weitläufige Wohngebiet, reparierte vom Kellerfenster bis zu den Dachfenstern alles, was in Scherben gegangen war.
Vom Glasermeister bekam ich pro Stunde eine Mark und zwanzig Pfennig auf die Hand. Von seinen Kunden, die froh waren, nicht tagsüber auf den Handwerker warten und Arbeit versäumen zu müssen, noch manchen Groschen oder eine halbe, selten eine ganze Mark dazu. Auch knackige Kohlrabi oder Tomaten aus dem Kleingarten erfreuten; oder Strümpfe vom vermissten Sohn, die man nach Kriegsende noch so lange hoffend aufbewahrt hatte – und die nun einem armen Studenten weiterhalfen … Der nahm alles mit Dank. Bis er – ziemlich bald nach dem 17. Juni 1953 – vom FDJ-Sekretär gefragt wurde, ob nicht endlich auch er sein Stipendium abholen wollte: die neunzig Mark Grundstipendium plus dreißig für Leistungsstand ‘gut’.

Dem 17. Juni folgte manch neue Repressalie; es folgten aber auch spürbare Erleichterungen, die sich summieren ließen. Die Welt wurde dadurch in der DDR nicht heil, nicht einmal meine kleine Welt. Aber eine Spur vernünftiger und gerechter schon. Und das bedeutete noch lange nach Stalins Tod für jeden Einzelnen, den es betraf, oft sehr, sehr viel!

Richard Wilhelm (geb. im Februar 1932 in Bautzen) absolvierte nach seiner Lehrzeit als Bau- und Kunstglaser seine Gesellenprüfung in Görlitz und war zunächst als Facharbeiter insbesondere bei der Wiederherstellung kriegszerstörter Kirchenfenster in Ostsachsen tätig.
Er studierte an der Fachschule für angewandte Kunst in Magdeburg (Abschluss als Werkkünstler für Glasgestaltung), weiterhin an der Kunsthochschule Berlin (Abschluss Diplom) und arbeitete als selbständiger Glasgestalter. Richard Wilhelm war 1956 Mitbegründer und bis 1984 Vorsitzender des Kollegiums Bildender Künstler Glasgestaltung Magdeburg. Er nahm seit 1962 an vielen Ausstellungen im In- und Ausland teil, u.a. in Halle, Dresden, Magdeburg, Coburg, Hamburg, Berlin, Belgien, UdSSR, USA und Syrien. Er arbeitete für zahlreiche Museen und Sammlungen, u.a. das Schlossmuseum Berlin-Köpenick, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das Grassimuseum Leipzig und die Nationalgalerie Damaskus.
1970 erhielt er den Kunstpreis der DDR, 1983 den Goethe-Nationalpreis für Kunst und Literatur.

Richard Wilhelm ist im Verhältnis zu seinem Lebensalter „dienstältester“ organisierter Liberaler in Ostdeutschland, Parteimitglied seit 1947.
Er war Mitglied der Volkskammer der DDR für die LDPD.
Richard Wilhelm lebt mit seiner Frau Leonore in Magdeburg.

Weitere Informationen über die Familie Wilhelm in Bautzen: www.wilhelm-bautzen.de